Eine Familienfeier, in einer Gaststätte irgendwo in Westdeutschland. Wir stehen hinter der Bar mit einem Laptop und nehmen die Liedwünsche unserer Verwandten entgegen. Überwiegend läuft englischsprachige Popmusik aus den 80ern. Eine unserer Tanten – wir nennen sie Ciocia – lehnt sich über die Theke und flüstert uns ihren Songwunsch ins Ohr.
Wir sind Grupa Mauczka.
Wir sind alle in Deutschland geboren, aber in Geschichten und Anekdoten über und in der Messiness von Oberschlesien, Górny Śląsk zuhause. Wir haben Großeltern, deren erste Sprache Deutsch ist. Wir haben Eltern, deren erste Sprache Polnisch ist. Oder sollten wir eher Oberschlesisch sagen? Denn ganz Polnisch klingt diese Sprache nicht. Manche sagen, sie klingt so, als sei sie mit viel Wasser verdünnt worden. In ihr verstecken sich deutsche, tschechische und andere Soundeffekte, Wortfetzten und Insider. Sie ist eher ein Brei aus Sprachen. Ein Kauderwelsch. Eine schleimig, dickflüssige Masse, die deutlich aus verschiedenen Zutaten angerührt wurde, welche sich aber nicht mehr trennen lassen. Eine Moczka der Mehrstimmigkeit und Mehrfachzugehörigkeit, der keine eindeutige Identität zugeschrieben werden kann. Den meisten von uns wurde diese Sprache, dieses Wasserpolnisch, nicht beigebracht. Einige von uns versuchen sie sich in zahlreichen Polnischkursen (wieder) anzueignen und erfahren doch immer wieder, dass die gelernten Vokabeln anders klingen als das, was sie aus den Mündern ihrer Familien gehört haben. Sie haben erst jetzt gelernt, dass es sich um Wasserpolnisch handelt. Oberschlesische Worte und Begriffe lassen sich nicht in einer Schule oder einem Lehrbuch lernen. Oberschlesische Worte tauchen vor allem im Familienalltag auf. Einige von uns sprechen Wasserpolnisch fließend.
Wenn wir Oberschlesien – so wie wir es aus den Erzählungen unserer Familien kennen – auf einer Landkarte suchen, finden wir die Region nur noch im Geschichtsbuch. Oberschlesien, Górny Śląsk war und ist eine Landschaft zwischen Oder, Neiße und Wisła, die sich durch die Überlagerungen von Steinkohleflözen, Stollen, Schächten und prekärer Arbeit unter Tage durch die Jahrhunderte hinweg tief verformt hat. Ein von Kohlebaggern gezeichneten Landstrich.
Es scheint uns, ein großes Missverständnis zu sein, dass Oberschlesien sich eindeutig Polen, Deutschland oder einem anderen nationalstaatlichen Projekt zuordnen ließe. Als Oberschlesier*innen 1921 – also heute vor ungefähr hundert Jahren – aufgefordert waren, in einer Volksabstimmung über die Zugehörigkeit der historischen Grenzregion abzustimmen, war eines klar: It’s a mess. Die städtische Bevölkerung sprach sich eher für eine deutsche Zugehörigkeit aus, die Ländliche eher für eine polnische. Wie man sich selbst verstand und wem oder was die Region zugeteilt werden sollte, wurde selbst innerhalb von Familien kontrovers diskutiert. Bestand die Hoffnung eine einfache Linie, die sich auf einer Landkarte einzeichnen ließe, ermitteln zu können, so zeigte das Abstimmungsergebnis, dass der Idee von nationalistisch gedachten Grenzen hier der Boden entzogen wurde.
Wenn wir über Gorny Slask sprechen, hilft uns die Frage, ob es entweder polnisch oder deutsch ist, nicht. Auch wir können die Frage, ob wir polnisch oder deutsch sind nicht eindeutig beantworten. Eine auf eine Nationalität festgeschriebene Identität und in Pässen eingetragene Namen helfen uns nicht. Unsere Namen haben unterschiedliche Schreibweisen und Aussprachen. Im Laufe der Zeit haben sie ihre Bedeutung und Zugehörigkeit gewechselt, wurden zugeordnet, umgeschrieben, überschrieben, angepasst und eingepasst.
Die Suche nach einem klaren und eindeutigen Anfang ist ausweglos, ist ein Missverständnis. Worte kommen nicht einfach. Heute klingen einige unserer Namen in deutschen Ohren eindeutig nicht-deutsch, eher ost-europäisch oder das was sie als slawisch imaginieren. Diese Namen müssen regelmäßig buchstabiert und erklärt werden. Andere wurden erfolgreich eingedeutscht und produzieren keine Knoten mehr in deutschen Zungen. Die meisten unserer Namen stehen auf deutschen Volkslisten. Listen, die im Nationalsozialismus von der NSDAP erstellt wurden, um den Bewohner*innen Ostoberschlesiens eine eindeutige Nationalität zuzuordnen und sie zu germanisieren. Listen, die bis heute in der Bundesrepublik Deutschland eine Relevanz haben und unseren Verwandten das Privileg gaben einfacher eine deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten als anderen Migrant*innen. Diese willkürlichen Schichten unserer Namen, um nationale Zuordnungen festzuhalten, zeigen: It’s a mess.
Hörst du das Rauschen der Autos? Nicht weit von dem Ort, an dem du jetzt liegst, bewegen sie sich auf mehreren Spuren über den Asphalt. Es ist die Autobahn 2. Eine künstliche Linie von West nach Ost, von Ost nach West. Eine Straße missbraucht durch NS-Propaganda, maßgeblich erbaut von polnischen Zwangsarbeit*innen und Kriegsgefangenen. Eine Strecke, auf der sich mehrere Teile unserer Geschichten überlagern. Manchmal scheint es uns als würde die A2 nicht von einer in die andere Richtung führen, sondern einen verknoteten Kreis ergeben.
Wenn wir heute von Gelsenkirchen, Bochum, Hannover oder einer anderen westdeutschen Stadt nach Polen fahren wollen, nutzen wir diese Autobahn. Als unsere Eltern und Großeltern in den 70ern und 80ern aus der Volksrepublik Polen in die Bundesrepublik Deutschland migrierten, nutzen die meisten von ihnen die gleiche Autobahn – nur in die entgegengesetzte Richtung. Eine ihrer ersten Stationen war das niedersächsiche Grenzdurchgangslager Friedland. Fast alle unsere Familien haben in diesem Lager gewohnt. Andere waren auch in Hamm, Osnabrück oder Unna-Massen.
Bei der Ankunft in Deutschland trafen trotz schnellerer Einbürgerung fast all unsere Verwandten auf Diskriminierung, Antislawismus und Klassimus. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Berufabschlüsse, die sie in der Volksrepublik Polen gemacht hatten, wurden in der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkannt. Nicht alle Berufe stehen allen Menschen gleichberechtigt zur Verfügung. Deutsch mit polnischem Azent versperrte viele Türen; es sei denn es geht um Pflegeberufe. Teile von uns haben dank akzentfreiem Deutsch bessere Chancen, werden innerhalb der Familie als die einzelne Erfolgsgeschichte immer wieder rausgeholt. Sodass die anderen in den Hintergrund gerückt werden und so auch ihre strukturellen Benachteiligungen. Teile von von uns teilen mit ihren Eltern diese Othering Erfahrung. Teile von uns haben sich lange selbst für den Akzent der Eltern geschämt.
Für uns ist Górny Śląsk kein Ort, an dem wir gelebt haben, sondern ein Gefüge aus Fiktionen, die wir aus den Erinnerungen unserer Verwandten ersponnen haben. Der Name einer Endstation, die wir nie erreichen werden. Der wir uns nur nähern können. Durch Geschichten, Sprachen, durch Sounds und Fragen, durch Don Kamisi und andere Missverständnisse. Unsere oberschlesischen Zugehörigkeiten verstehen sich nicht von selbst, sondern lassen sich in Missverständnissen finden. Sie zeigen sich in ihrer Uneindeutigkeit und Opazität. Unsere Eltern und Großeltern haben uns erzählt, dass sie in der Volksrepublik Polen immer als Deutsch gesehen wurden und in der Bundesrepublik Deutschland immer als Polnisch. Wir verstehen uns weder als deutsch noch als polnisch. Wir sind verschlonskt. Wir suchen nicht mehr nach der eindeutigen Spur, die diese zwei Pole auflöst. Wir warten nicht mehr auf den Comic Relief, der Missverständnisse zum Wohlgefallen aller auflöst.
Für uns ist Schlonsken eine Praxis des notwendigen Scheiterns. Sowohl an eindeutigen nationalen Identitätskonstrukten, aber auch an kapitalischen Versprechen, migrantischen Hoffnungen und Erwartungen. Unsere Eltern und Großeltern sind mit dem Ziel, eine bessere Zukunft für ihre Kinder und Enkelkinder zu ermöglichen, aus der Volksrepublik Polen in die Bundesrepublik Deutschland migriert. Eine Zukunft, die von uns Kindern heteronormative und cis-geschlechtliche Lebensführung erwartet. Wir können diese Erwartung nicht ausfüllen.
Wir scheitern an dieser Vision und bewegen uns jenseits des Rahmens.
Wir passen nicht aufs Familienbild.
Wir sind Grupa Mauczka.
Wir begreifen Oberschlesien als Verb, als Praxis, die nicht versucht unsere oberschlesischen Missverständlichkeiten aufzulösen, nicht feinsäuberlich in nationale Schubladen sortiert. Oberschlesien - oder wie wir sagen - Śląsken, Schlonsken versucht nicht weiter unsere Uneindeutigkeiten zu klären, zu erklären, sondern zu erzählen. Schlonsken ist Mauzcka zu sprechen, ist Don Kamisi zu singen, ist Dindać zu praktizieren. Schlonsken bedeutet Mauczka zu sagen, Dindac zu meinen und Don Kamisi zu verstehen. Schlonsken bedeutet in vergangenen Momenten einer Grenzregion etwas Zukünftiges erkennen zu können. Oberschlesien ist eine Praxis, die sich nationalistischen Grenzziehungen und Vereinheitlichungen entzieht, Undurchsichtigkeiten produziert und uns notwendigerweise in Missverständnisse verwickelt. Es sind diese kurzen Momente, diese kleinen Missverständlichkeiten, die an der Bartheke zwischen Ciocia und uns entstanden sind, an denen wir uns festhalten. Es ist dieses Blubbern, das irgendwo zwischen verschiedenen Generationen und ihren Sprachen, beim Grenzübertritt zwischen Polen und Deutschland, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Verwestlichung, Polonisierung und Eindeutschung, zu brodeln begonnen hat, das uns bewegt. Wir pflegen keine Selbstverständlichkeiten, sondern widmen uns den Missverständlichkeiten, dem Schlonsakischen, dem Oberschlesischen, dem Górny Śląsken, der Praxis des Schlonskens. Worte, die nicht einfach kommen, sind dabei unser Antrieb, englischsprachige Popmusik unser Kontrastmittel und Missverständnisse unser Gleitmittel.
Wir stehen hinter der Bar mit einem Laptop und nehmen die Liedwünsche unserer Verwandten entgegen. Eine unserer Tanten - wir nennen sie Ciocia - lehnt sich über die Theke und flüstert uns ihren Songwunsch ins Ohr: "Spiel 'Don Kamisi', proszę." Wir tippen den Song ins Suchfeld ein: D O N K A M I S I. Es wird noch viele Familienfeiern dauern, bis sich herausstellen wird, dass dies nicht die richtige Schreibweise ist. Aber was sind schon richtige Schreibweisen. An diesem Abend werden wir den Song vergeblich suchen. Im schummrigen Licht einer gescheiterten Familienfeier, irgendwo in Westdeutschland, laden wir dich, liebe Zuhörer*in, ein mit uns ein wenig zu schlonsken.
Text: Grupa Mauczka
Übersetzung & Support: Tyler Cunningham, Paweł Świerczek, Zuzanna Zając